„Warum lasst ihr mein Kind im Stich?“
ASCHAFFENBURG-OBERNAU (jm). Das Wohl unserer Kinder steht an oberster Stelle - umso wichtiger sind die regelmäßigen Kinderarzt-Besuche. Aber was, wenn es zu wenige gibt? Unsere Region klagt über großen Kinderärztemangel. PrimaSonntag ist den Gründen dafür auf die Spur gegangen und hat mit einer verzweifelten Mutter gesprochen.
„Wir fühlen uns komplett allein gelassen. Niemand kann uns helfen.“ Cansu Bakcan hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in Obernau. Ihre jüngste Tochter Ilay ist gerade mal ein Jahr alt und mit zahlreichen Vorerkrankungen auf die Welt gekommen. „Sie hat beispielsweise eine Trichterbrust. Das kann man auch eigentlich in ihrem Alter noch behandeln. Dazu hat sie ein Loch im Herzen“, erklärt die besorgte Mutter. Durch diesen Herzfehler muss ihr Kind eigentlich alle sechs Monate behandelt werden. Doch da beginnt schon die Problematik: „Für einen Termin bei Kardiologen brauchen wir eine Überweisung vom behandelnden Kinderarzt.“ Die Familie telefoniert alle Praxen ab, rennt von Amt zu Amt. „Ich war beim Jugendamt, im Klinikum, im Rathaus beim Oberbürgermeister und der Bürgermeisterin, man wurde ständig nur weitergeleitet. Aber alle Versuche haben uns nicht geholfen.“ Ilay braucht zusätzlich die nötigen Impfungen und Kindervorsorgeuntersuchungen. „Wieso gibt es keine Lösung? Sind wirklich alle Ärzte so ausgebucht, dass man ein krankes Kind, das behandelt werden muss, nicht aufnehmen kann?“ Die Aussagen der Ärzte sind immer die gleichen: „Im Notfall kann ich sie bringen, aber Untersuchungen oder Impfungen können sie nicht machen.“ Mittlerweile war Cansus Kind seit einem Jahr nicht mehr beim Arzt. „Ich finde es traurig, dass man eine verzweifelte Mutter so alleine lässt. Ich fühle mich richtig im Stich gelassen.“ Die Familie ist wütend und weiß nicht mehr weiter. „Die einzige Möglichkeit sind Kinderärzte in Würzburg und Nürnberg. Aber wir können da doch nicht jedes Mal hinfahren. Private Arztpraxen können wir uns dazu einfach nicht leisten.“
Trend zur Teilzeit
Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern ist die Gesamtzahl der Kinderärzte in den letzten fünf Jahren im Kreis Miltenberg minimal auf sechs gesunken. In Aschaffenburg sind es unverändert 19 Ärzte. Damit stuft der unabhängige Landesauschuss der Ärzte und Krankenkassen den Planungsbereich Miltenberg als drohend unterversorgt ein. „Wenn man die Zahl der in Bayern tätigen Kinderärzte betrachtet, steigt diese sogar von rund 1.120 auf 1.300“, erklärt Dr. Axel Heise, Sprecher der KVB. „Der Grund ist, dass wir zunehmend einen Trend zur Teilzeit sehen. Die Ärzte, die 50 bis 60 Stunden pro Wochen arbeiten, werden zunehmend weniger oder gehen in Rente.“ Ärzte legen, wie andere Berufsgruppen auch, zunehmend Wert auf eine ausgewogene Mischung zwischen Arbeit und Freizeit und achten beispielsweise darauf, dass die Zeit mit der Familie nicht zu kurz kommt. „Für das Arbeitsvolumen, das früher ein Arzt geleistet hat, braucht es künftig gegebenenfalls zwei Ärzte in Teilzeit.“ Zudem klagt die Branche über einen Nachwuchsmangel. „Eine Erhöhung der Studienplätze für Humanmedizin ist unbedingt notwendig, wenn man auch weiterhin eine hochwertige medizinische Versorgung im Freistaat gewährleisten möchte. Dies wird sich allerdings erst auf längere Sicht positiv auswirken, da allein von elf bis zwölf Jahren Zeitbedarf für das Erreichen des Facharztstatus als Minimum angesetzt werden muss.“ Alle Anfragen bei Kinderärzten der Region diesbezüglich blieben mit den Worten: „Keine Zeit“ oder „Ich möchte mich nicht äußern“ unbeantwortet.
„Ich habe Angst“
Cansu Bakcans Alltag ist mittlerweile von Angst geprägt. „Selbst wenn ihr nur die Nase läuft: Ich habe so Angst, weil ich nicht weiß, wie ich sie behandeln soll.“ Dazu fürchtet die Mutter, dass die Einjährige aufgrund der fehlenden Impfungen nicht in den Kindergarten gehen kann. „Ich hoffe einfach, dass wir schnell einen Kinderarzt finden und nicht mehr von A nach B geschickt werden. Meine Tochter muss wegen ihrer Vorerkrankungen behandelt und untersucht werden. Wir wollen doch einfach nur wissen, ob unser Kind gesund ist.“