"Verblöden" unsere Kinder?

BAYER. UNTERMAIN (acm/vm). „Die Kinder hängen ja nur noch am Handy rum“ - die älteren Generationen werden nicht müde, diesen Satz zu sagen. Es ist aber viel Wahres dran, denn immer weniger Kinder können ohne Probleme lesen - auch bei uns am Bayerischen Untermain! Bewiesen hat das zuletzt die sogenannte IGLU-Studie, die alle fünf Jahre durchgeführt wird. Erschreckendes Ergebnis: Jedes vierte Kind kann nach dem Ende der Grundschule nicht richtig lesen. Umso wichtiger ist es, einen Ort zu haben, an dem das gefördert wird - wie unsere Büchereien, die wir zum Tag des Buches diese Woche besucht haben.
Ob im Restaurant, beim Arzt oder in der Bahn, zur Beschäftigung wird das Tablet herausgeholt oder das Handy in die Hand gedrückt. Die Miltenberger Familien-Therapeutin Christiane Kuch kennt die Lesefähigkeit der Kinder: „Vorgelesen wird nur noch selten - vorlesen lassen ist jetzt angesagt.“ Sie rät den Eltern, ein Ritual zu schaffen: Abends vor dem Schlafen etwas vorlesen, und das jeden Tag. Erst können die Eltern das Buch vorlesen, irgendwann kann das Kind mitlesen und dann kann alleine gelesen werden. Das ist die richtige Reihenfolge, sagt uns Christiane. Trotz allem „gibt es natürlich nach wie vor noch kleine Leseratten, aber eben wesentlich weniger als früher.“

Hören statt selber lesen
Das klassische Vorlesen findet offenbar so gut wie gar nicht mehr statt, es wird durch Hörspiele ersetzt. „Die Eltern sind gestresst und arbeiten den ganzen Tag. Sich wirklich abends hinzusetzen und mit den Kindern zu lesen - dafür haben die wenigsten Eltern noch Zeit“, sagt Dr. Dorothee Kersting - sie hat über 24 Jahre lang die LRS-Hilfe in Aschaffenburg geleitet. Um fehlerfrei lesen zu können, muss man trainieren, dass Bilder im Kopf der Leser entstehen. Das sei bei den Kindern heutzutage nicht mehr möglich. Die meisten raten die Wörter nur noch. Doch das ist nicht das Einzige: Die Fantasie der Kinder habe deutlich nachgelassen. Durch die vielen Filme, bei denen alle Bilder bereits vorgegeben sind, schaffen sie es nicht mehr, eigene Bilder zu kreieren. Das ist laut Dr. Kersting nicht nur im Grundschulalter ein Problem: „Wer bis zum Ende der 4. Klasse nicht gescheit lesen kann - der hat auch weiterhin Probleme.“ Eins ist klar: Die Kinder lesen heute nicht mehr so flüssig wie damals. Durch das stockende Lesen fangen die Grundschüler dementsprechend an, auch stockend oder sogar in „WhatsApp“-Sprache zu sprechen und zu schreiben.

Lesepaten unterstützen Lesen
Lehrkräfte setzen die Basis zum Lesenlernen und vermitteln die Grundlagen. Es gibt aber auch geschulte Lesepaten, die weitere Lesekompetenz von Kindern fördern, indem sie ohne Notendruck mit ihnen - auch spielerisch - das Vorlesen üben. Dabei hilft zum Beispiel die Lesepatenschaft in Aschaffenburg. Vorlesen ist immer ein Teil der Leseförderung, da es sich positiv auf den schulischen Lese- und Schreiberwerb auswirkt. Wichtig ist dabei auch die Bücherauswahl: Gute, kindgerechte Bücher und Comics, auch für Kinder mit Leseschwierigkeiten, sind essentiell. Dafür müssen nicht immer teure neue Bücher gekauft werden. Die Bibliotheken im PrimaSonntag-Land verfügen über ein breites Angebot, d.h. nicht nur das klassische Medium Buch. In der Bibliothek in Alzenau werden zum Beispiel auch E-Book Reader ausgeliehen. „Für das Jahr 2024 wurden Rekordzahlen erfasst. Vor allem, was die Besucher angeht, aber auch die Ausleihzahlen steigen stetig“, freut sich die langjährige Mitarbeiterin Kirstin Braun.

Jugendliche gehen kaum in die Bibliothek
Allerdings: Die Nutzer gehören eher zu den älteren Generationen. Die Stadtbibliothek in Erlenbach hat im Jahr 1.000 aktive Leser. Das könnten aber noch mehr sein, betont die Bibliothekarin Christine Fröhlich. Das Publikum sind hauptsächlich junge Familien und Rentner. Das hat auch einen Grund: „Die Senioren sind mit dem Lesen aufgewachsen, weil sie noch keine Alternativmedien hatten“, so Fröhlich. Im Alter zwischen 15 und 30 kommen jedoch sehr wenige Besucher. Christine Fröhlich ist sich sicher: Die geringere Aufmerksamkeitsspanne der Kinder ist der Grund für eine deutliche Veränderung der Bücher. Mit vielen Zeichnungen und farbigen Elementen wird versucht, das Lesen und die Bücher an sich attraktiver zu gestalten. Die Bibliotheksleiterin betont, dass durch das Lesen der Wortschatz enorm verbessert und ausgeprägt wird. Deshalb bietet die Bibliothek in Erlenbach jede Woche eine Vorlesestunde an. Bei der kommen in der Regel fünf bis 15 Kinder. Im Sommer wird sogar auf dem Spielplatz vorgelesen. Dort sind bis zu 50 Kinder mit dabei.
Lesen als Kernkompetenz
Auch die Stadtbibliothek Aschaffenburg bietet verschiedene Angebote für Kinder an. Ob Vorlese-Stunde, Erzähltheater oder ein interaktives Bilderbuchkino. Die Bibliothek kann dadurch als mögliche Lesehilfe der Kinder dienen. „Ich verstehe die Matheaufgabe nur, wenn ich lesen kann. Es geht nicht ohne Lesen. Es ist eine Kernkompetenz, die jeder braucht“, erklärt Petra Reuter-Bulach, die Bibliotheksleiterin. Doch nicht nur unsere Kinder lesen eindeutig zu wenig. Auch Erwachsenen würde es laut Petra guttun, wenn sie wieder mal ein Buch in die Hand nehmen und einfach mal in eine andere Welt abdriften.
Das sagen unsere Leser
Sebastian und Christina Maier aus Hösbach
„Lesen sollte im Kindergarten und der Schule gefördert werden. Nur als ich ganz jung war habe ich viel gelesen, heute gar nicht mehr. Früher, als man die Bücher noch angefasst hat, war das schöner als jetzt auf dem Ipad. Vorlesen tut meiner Tochter einfach total gut, es macht ihr Spaß und ihr Wortschatz wird größer.“
Sylva und Janus Kubillas aus Aschaffenburg
„Das liegt auf jeden Fall an den Eltern. Die Kinder hängen nur noch am Handy und unterhalten sich nicht mehr, sondern kommunizieren nur noch per Handy.“
Tatjana Scheck aus Aschaffenburg

„Zum Großteil liegt es daran, dass die Kinder schon früh Handys bekommen, fernsehen oder Videos schauen. Da müssten die Eltern früher anfangen, es in die richtige Richtung zu leiten.“
Fritz Lagraff aus Aschaffenburg

„Ich hab vorgelesen bekommen aber auch viel selbst gelesen. Wenn Kinder nicht lesen, dann lernen sie viele Welten nicht kennen. Wenn man nicht damit vertraut ist, Bücher zu lesen ist die spätere Ausbildung auch schwer. Aufgrund von Social Media ist die Aufmerksamkeitsspanne einfach kürzer geworden, da ist nicht mehr viel Zeit um Bücher zu lesen.“
Heide Willig aus Aschaffenburg

„Ich habe liebend gerne selbst gelesen. Unter der Bettdecke, wenn ich nicht mehr durfte. Die Sprache wird verarmen, das Handy tippt alles vor und die Kinder lernen nicht mehr wie man richtig schreibt. Der Wortschatz verringert sich enorm.“
Anna-Mona Hoffarth aus Aschaffenburg

„Mir wurde als Kind vorgelesen, immer kurz vorm Einschlafen. Dann kam ich selbst zum Lesen. Das gehört zu meinem Alltag dazu. Wenn Kinder gar nicht mehr lesen, besteht die Gefahr, dass Kinder das Empathievermögen und ihre Fantasie verlieren.“