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„Man trinkt Alkohol, um einschlafen zu können“

16.04.2023, 06:30 Uhr in PrimaSonntag
KW15 Obdachlos 6
"Am Roßmarkt" in Aschaffenburg

BAYER. UNTERMAIN (jm). Nässe, Kälte, Schutzlosigkeit – unter diesen Umständen müssen viele Menschen in der Obdachlosigkeit ihr Leben bestreiten. Auch in unserer Region ist die Anzahl der Betroffenen dem subjektiven Empfinden nach gestiegen. PrimaSonntag hat mit Betroffenen und Experten über die aktuelle Situation und die Gründe gesprochen.

„Jetzt weiß ich, warum diese armen Menschen irgendwann anfangen Alkohol trinken: Einfach um einschlafen zu können“, erklärt Jay Brown. Der gebürtige Amerikaner wuchs im Schatten des Mount Rushmore in South Dakota auf und war von 1988 bis 1992 als Soldat in Aschaffenburg stationiert. Dabei verliebte er sich in das bayerische Nizza und blieb auch danach in unserer Region sesshaft. Bis vor zwei Jahren arbeitete er hier als Maler und Lackierer. Irgendwann machte sein Körper nicht mehr mit und Jay musste Sozialleistungen beziehen. Hinzu kamen Gedächtnislücken, verursacht durch einen Schlaganfall. „Ich habe nicht gewusst, dass mein amerikanischer Pass abläuft“, erinnert sich der 66-Jährige. „Dadurch habe ich kein Geld vom Jobcenter mehr gekriegt.“ Sein Vermieter warf ihn aus seiner Wohnung in Aschaffenburg-Leider. „Ich habe dann drei Monate am Main in einem Zelt gewohnt“, berichtet Jay. „Man war sehr einsam.“ Eines Tages erkannte ihn ein alter Arbeitskollege am Wasser und stellte Kontakt zum Verein „Gutherzig“ her. Der Verein half Jay zurück auf die Beine. Mittlerweile wohnt er wieder in einer Einzimmerwohnung. Sein Fall zeigt trotzdem, wie schnell der Absturz in die Obdachlosigkeit gehen kann.

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Jay lebte drei Monate am Main in einem Zelt.
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Fotos: Gutherzig e.V.

„Man kommt da
nicht mehr raus“
An seinem neuen Wohnort lernte er Brigitte kennen. Auch sie war selbst zweimal von Obdachlosigkeit bedroht. „Es ist wirklich ganz schwer aus so einer Situation ohne fremde Hilfe heraus zu kommen“, erklärt Brigitte. „Jay hat keinen Weg gesehen, es alleine zu schaffen. Er hatte Hilfe von Freunden.“ Aus ihrer Sicht fehlt es größtenteils an Informationen, dass es Hilfen gibt. Laut PrimaSonntag-Umfragen auf unseren Straßen haben viele Menschen den Eindruck, dass die Obdachlosigkeit gestiegen ist – vor allem in der Aschaffenburger Innenstadt. Auf unsere Anfrage bestätigt die Stadt diesen Eindruck. „Die Sozialvereine und unsere Kooperationspartner sprechen von einem gestiegenen Anteil an Bedürftigen.“ Eine statistische Datenlage oder Entwicklung hierzu liege allerdings nicht vor. „Wir stellen vermehrt Obdachlosigkeit im Bahnhofsquartier, am Dämmer Tor, im Sommer insbesondere in Parks und am Mainufer, im Winter vermehrt in Parkhäusern fest“, berichtet eine Sprecherin der Stadt.

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Wolfgang Sommer-Pekel

Krisen befeuern Problem
Bleibt die Frage – was könnten die Gründe für den Anstieg sein? „Wir können auch nur spekulieren, vermuten aber, dass es finanziell eine Mischung aus dem zunehmenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum der steigenden Inflation und der Energiekrise ist“, so die Stadt. Daneben würden aber sicher auch die Pandemie und die Probleme mit der Bewältigung von lang andauernden Krisen in der Gesellschaft psychologisch eine Rolle spielen. Das vermutet auch Wolfgang Sommer-Pekel. Er ist für die Obdachlosenunterbringung in Elsenfeld zuständig. „Durch die Pandemie und die Energiekrise wurde die Obdachlosigkeit definitiv befeuert“, erklärt Sommer-Pekel. Es gäbe verschiedene Anlaufstellen. beispielsweise die Fachstelle zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit und Streetwork der Stadt Aschaffenburg, die Bahnhofsmission Aschaffenburg oder das Café Grenzenlos für Obdachlose und Arme. „In Krisenphasen steigt die Obdachlosigkeit“, weiß Sommer-Pekel. „Aber dann versuchen wir natürlich auch immer zu helfen, dass die Personen schnellstmöglich auf eigenen Beinen stehen.“