„Man lacht ja auch keinen im Rollstuhl aus“
ASCHAFFENBURG (kh). Die Frau an der Kasse hustet aber ganz schön oft hintereinander, was stimmt nicht mit ihr? Häufig erwischt man sich dabei, wie man bestimmte Verhaltensweisen und Erscheinungen unserer Mitmenschen missachtend beäugt und direkt in eine Schublade steckt. Was ist aber, wenn die Kassiererin am Tourette-Syndrom erkrankt ist? Dann sieht sie sich wahrscheinlich jeden Tag damit konfrontiert, dass Leute sie schief anschauen, wenn die Tics losgehen. PrimaSonntag klärt über die Nervenerkrankung Tourette auf.
Die angeborene Krankheit des Nervensystems wird meistens direkt mit wahllosen Beleidigungen verbunden. Aber Tourette kann auch relativ harmlos sein. So wie bei dem 19-jährigen Elia Schmidt aus Aschaffenburg. Er hat mit zwölf Jahren die Diagnose Tourette bekommen: „Angefangen hat es mit Zwangsstörungen. Da war ich aber erst so vier oder fünf Jahre alt. Zum Beispiel habe ich immer meine Spielzeugautos nach Farben sortiert. Da meinten die Ärzte aber noch, das ginge wieder weg.“ Die Gewohnheiten wurden aber immer schlimmer und haben sich dann zu Tics wie Augenzucken entwickelt. „Bei mir wurde schließlich festgestellt, dass ich einen Dopamin-Überschuss habe“, erklärt Elia. Generell sind die Ursachen des Tourette-Syndroms jedoch sehr unklar. Das Dopamin ist ein Glückshormon und zu viel davon sorgt für viel zu viel Bewegung im Körper, was sich in diesen Tics niederschlägt. Bei Elia sind das keine verbalen, wie Beleidigungen, sondern nur körperliche: „Ich hatte mal einen Tic, dass ich ständig unter meine Schuhsohle gucken musste, ob ich irgendwo reingetreten bin. Oder ich gucke in die Ecken von Räumen.“ Meist werden in der Öffentlichkeit aber nur die extremen Beispiele dargestellt, meint Elia. „Das verstärkt nur Vorurteile, Tourette ist aber gar nicht so schlimm.“ Er selbst hat noch keine großen Probleme gehabt: „Manchmal werde ich komisch angeschaut oder gefragt, wieso ich so in die Ecke gucke, dann erkläre ich kurz mein Krankheitsbild und alles ist gut.“
Ist Tourette heilbar?
Die sogenannte Tic-Störung wird bei rund einem Prozent aller Kinder wirklich diagnostiziert. Aber schon jedes 15. Kind im Grundschulalter hat vorübergehende Tics, die nie festgestellt werden. Die Krankheit an sich wird meistens im Jugendalter diagnostiziert und kann sich dann prinzipiell in alle Richtungen verändern. Bei 70 Prozent der Erkrankten verschwinden die Tics sogar komplett. Prof. Dr. med. Rolf Schneider ist Facharzt für Neurologie und Psychologie und war Chefarzt für Neurologie am Klinikum Aschaffenburg: „Die Krankheit wird nicht durch einen Scanner festgestellt, die Diagnose wird durch das klinische Erscheinungsbild gemacht. Behandelt wird sie dann erstmals durch Verhaltenstherapie. Wenn das nicht mehr hilft, sind wir häufig gezwungen Medikamente zu geben, die auf das Hauptsymptom wirken, aber durchaus auch erhebliche Nebenwirkungen haben.“ Auch Elia nimmt Tabletten: „Das hemmt den Dopaminspiegel, sodass ich dann auf einem normalen Level bin. Leider werde ich davon müde und unglücklicher, weil ich einen höheren Hormonhaushalt gewohnt bin.“ Prof. Schneider stellt dazu noch eine weitere These auf: „Die Vermutung, dass die Krankheit an einem Dopaminüberschuss hängt, macht schon Sinn. Die Ursache kann aber auch die Vergesellschaftung mit anderen Krankheiten sein wie Zwängen, Ängsten, Kontrollstörungen oder ADHS.“
„Ich möchte Fahrlehrer werden“
Schon in der Schule hat Elia gelernt, mit den Tics umzugehen. Erst wurde die durch Tics verlorene Zeit in Klausuren mit einem Nachteilsausgleich von 20 Minuten draufgerechnet, aber das ging dann im Abitur nicht mehr. Elia hat es trotzdem geschafft und jetzt den großen Traum, Fahrlehrer zu werden. So einfach ist das aber gar nicht: „Im Arbeitsleben ist es mit Tourette ein bisschen schwerer. Um Fahrlehrer werden zu können, muss ich mir vom Neurologen und Psychologen bestätigen lassen, dass ich dieser Verantwortung gewachsen bin. Pilot könnte ich jetzt halt nicht werden.“ Aber eine Sache ist dem 19-Jährigen besonders wichtig: „Man sollte es einfach nicht groß beachten. Ich bin da zwar sehr entspannt, aber andere kann es schon sehr verletzen, wenn auf einmal über Tics gelacht wird. Man lacht ja auch niemandem im Rollstuhl aus.“ Auch Prof. Dr. Schneider hat dazu eine Meinung: „Die Akzeptanz ist gestiegen, aber es gilt ganz einfach das Prinzip: aufklären, aufklären, aufklären! Die Umgebung muss das kapieren und damit umgehen können. Wenn nicht, sollte man die Umgebung wechseln.“