„Ich kann nicht mehr!“
ALZENAU-KÄLBERAU (mg).Für Lucyna Müller gleicht der Alltag einem nie endenden Überlebenskampf. Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern steht seit Jahren am Rande ihrer Kräfte. Ihr jüngster Sohn Louis (9) leidet an Mehrfachbehinderungen, die das Familienleben zu einer unerträglichen Belastung machen. „Ich liebe meinen Sohn, aber so kann es nicht weitergehen. Ich kann nicht mehr“, sagt die 48-Jährige mit Tränen in den Augen.
Louis ist ein besonderes Kind - er leidet an atypischem Autismus, einer überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und dem seltenen GRIN2B-Syndrom. Dieses Syndrom führt zu gravierenden Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten, die das Leben der gesamten Familie bestimmen. „Er braucht eigentlich 24/7 Betreuung“, erklärt Lucyna. Doch weder Jugendämter, noch spezialisierte Einrichtungen scheinen bereit, diese Verantwortung zu übernehmen. Lucyna beschreibt eindringlich, wie sie keine Sekunde zur Ruhe kommt. „Ich kann noch nicht mal aufs Klo gehen, ohne Angst zu haben, dass etwas passiert. Ich darf nichts aus den Augen lassen - kein Fenster, keine Tür. Alles muss abgeschlossen sein, weil er sonst wegläuft.“ Beim Autofahren wird es lebensgefährlich: „Er nimmt das Metallteil des Gurtes und hämmert damit gegen die Fensterscheibe.“ Auch nachts gibt es keine Pause. Louis schläft selten durch, schreit, spuckt oder schlägt um sich. „Mit Babyphone und Schlafmitteln versuche ich es irgendwie zu schaffen, aber ich schlafe kaum noch“, berichtet Lucyna. Hilfe von außen? Fehlanzeige. „Ich hatte eine Familienhelferin vom Jugendamt hier, aber selbst sie konnte mir nicht helfen. Sie hat einen Krankenwagen gerufen, weil Louis so aggressiv war.“
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Die Situation spitzt sich seit Jahren zu, doch niemand scheint bereit, Verantwortung zu übernehmen. „Ich habe unzählige Einrichtungen angeschrieben, telefoniert, alles versucht. Aber die sagen entweder, dass er zu klein ist oder dass sie keinen Platz für ihn haben.“ Selbst ein richterlicher Beschluss, der Louis in eine geschlossene Einrichtung überstellen sollte, brachte keine Lösung. „Die Einrichtungen haben uns abgewiesen, sobald sie sein Verhalten gesehen haben.“ Eine Einrichtung in Marburg stellte Louis einen Platz in Aussicht. Also zog die Familie nach Hessen. Doch vor Ort stellte sich heraus, dass der Platz doch nicht verfügbar war. Ein Lichtblick schien das Blindeninstitut in Würzburg zu sein, das Louis in eine neu gegründete Fördergruppe aufnehmen wollte. Dafür zog die Familie erneut um, zurück nach Bayern. Doch auch diese Hoffnung wurde zerstört. „Sie haben gesagt, sie hätten uns vergessen. Jetzt können sie ihn nicht mehr nehmen, weil sie kein Pflegepersonal haben.“ Der Platz für Louis in Würzburg ist zwar sicher, doch wann genau, ist ungewiss - und für Lucyna Müller bleibt die quälende Frage: Wie lange muss sie diese Belastung noch alleine tragen?
Zukunft in Gefahr
Während Lucyna rund um die Uhr mit Louis kämpft, zerbricht das Leben ihrer anderen Kinder. Ihr 10-jähriger Sohn hat schweres ADHS und braucht ebenfalls Betreuung. Ihre 16-jährige Tochter leidet unter Depressionen. „Sie schließen sich sofort in ihren Zimmern ein, sobald sie nach Hause kommen. Sie essen nicht mehr mit uns, weil Louis Teller wirft oder spuckt.“ Die Gewalt geht auch gegen sie. „Wenn ich meinen anderen Kindern Aufmerksamkeit schenke, rastet er aus und greift sie an.“ Die Mutter ist zerrissen: „Meine anderen Kinder haben ein Recht auf ein normales Leben. Aber so haben sie keine Zukunft.“ Trotz der Verzweiflung bleibt eines klar: Lucyna liebt ihren Sohn. „Er kann auch so lieb sein. Aber in einer Sekunde dreht sich alles und er wird aggressiv.“ Sie hat akzeptiert, dass sie ihm nicht die Hilfe geben kann, die er braucht. „Es ist nicht einfach, nach so vielen Jahren Kämpfen loszulassen. Aber er braucht ein strukturiertes Umfeld, das ich ihm nicht bieten kann.“ Ihre Freundin Natascha ist wütend auf das System: „Es versagt auf ganzer Linie. So wie diese Frau lebt, ist das menschenunwürdig. Muss erst etwas passieren, bevor die Leute endlich aufwachen?“ Das Landratsamt Aschaffenburg verweist auf den Bezirk Unterfranken, der für Mehrfachbehinderungen zuständig ist. Eine Antwort aus Würzburg steht bei Redaktionsschluss noch aus. Für Lucyna Müller und ihre Familie bleibt das Licht am Ende des Tunnels, dass der Platz in Würzburg bald frei wird – ein erster Schritt zu einer Entlastung für Louis und für seine Familie. Lucyna kämpft aber weiter, nicht nur für ihre Kinder, sondern auch dafür, dass Familien, die in einer ähnlichen Situation sind, nicht im Stich gelassen werden.