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Den Firmen am Untermain laufen die Arbeiter davon

02.10.2022, 06:30 Uhr in News
KW39 Personalmangel 1

BAYER. UNTERMAIN (fs/jm). Der Papierstapel wird immer höher, die E-Mail-Box immer voller und die Zahl der Überstunden immer größer: Das ist die Realität vieler Arbeitnehmer, auch am Untermain. Das Resultat: Immer mehr Menschen müssen sich wegen psychischer Beschwerden krankschreiben lassen oder kündigen ihren Job. Der Personalmangel hat die Region fest im Griff. Und die wenigen guten Leute, die es noch gibt, rennen den Firmen weg.

Der Aschaffenburger Bürgermeister Eric Leiderer ist verzweifelt: „Wir wissen nicht, wie wir die Verwaltung in Zukunft so aufrecht erhalten sollen.“ Die Stadt führt aktuell eine Untersuchung unter ihren Mitarbeitern durch: Die Zahlen sind erschreckend: „Im Jahr 2022 hatten wir schon 58 Kündigungen und wir sind noch nicht am Ende.“ Zum Vergleich: 2017 waren es nur 29. Auch die Entwicklung der Krankheitstage macht ihm Sorgen. „Die gesundheitsbedingten Fehltage haben sich von durchschnittlich 15 auf 29 fast verdoppelt.“ Die beiden Corona-Jahre sind bei dieser Angabe ausgenommen. Die Hälfte der krankgeschriebenen Mitarbeiter fehlen länger als sechs Wochen. „Das ist ein Anzeichen für psychische Beschwerden.“ Dazu sind in den letzten zehn Jahren 200 Mitarbeiter in Rente gegangen. In den nächsten zehn werden es nochmal 300 sein. „Wir müssten in den nächsten zehn Jahren 700 Leute einstellen, um alle Abgänge zu kompensieren“, führt Leiderer fort. Doch der Aufwand dafür ist riesig – und die Bewerberzahlen mau. „Früher hatten wir auf eine Stelle 70 Bewerbungen. Im August waren es auf zwei Stellen sechs.“ Die Arbeitgeber am Bayerischen Untermain buhlen regelrecht um gute Mitarbeiter. „Eine gut ausgebildete Fachkraft kann sich den Arbeitsplatz mittlerweile aussuchen. Wir bewerben uns regelrecht für die Bewerber!“ Die Stadt arbeitet daher fieberhaft an Ideen, Bewerber zu rekrutieren, aber vor allem auch die eigenen Leute zu halten. Wenn es so weiter geht, werden in den nächsten vier Jahren 420 Menschen kündigen.

Eric Leiderer
Eric Leiderer

Zahlen belegen
Krankenstand
Die Probleme der Unternehmen bestätigen auch die Zahlen der AOK Bayern. Der Krankenstand der erwerbstätigen Versicherten bei der AOK lag bayernweit im Juli 2022 bei 6,2 Prozent. In den beiden vorherigen Jahren lag die Zahl nur zwischen vier und fünf Prozent. Die psychischen Erkrankungen, konkret die Arbeitsunfähigkeits-Fälle je 100 Versichertenjahre, haben sich bayernweit im Zeitraum Januar bis Juli 2022 im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum um gut 10 Prozent erhöht. „Tendenziell haben wir den Eindruck, dass Patienten mit Depressionen oder psychischen Erkrankungen vermehrt in der Sprechstunde eintreffen“, bestätigt Dr. Roland Rauch, Hausarzt aus Karlstein. Diese Personen müssten dann auch oftmals längerfristig krankgeschrieben werden. „Zum Teil kommen die Patienten auch mit körperlichen Symptomen, die sich hinter einer Depression verstecken“, erklärt Dr. Rauch. „Das sind dann beispielsweise Magen- oder Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Gewichtsverlust.“

Dr rauch
Dr. Roland Rauch, Hausarzt aus Karlstein

Entmenschlichung
der Arbeit
Einen großen Anteil für den Anstieg sieht der Hausarzt in der Pandemie. „Einerseits sind das natürlich Ängste und Sorgen, die die Menschen vermehrt bedrücken“, vermutet Rauch. „Sicherlich jetzt auch verstärkt durch die Ukraine- und die Energiekrise. Das sind ja zum Teil auch ganz reale Ängste.“ Auch Psychologe Dr. Gunnar Immo Reefschläger aus Aschaffenburg kennt das Problem. Häufig leiden diese Patienten an Depressionen, Anpassungs- und Angststörungen oder psychosomatischen Beschwerden. „Die generellen Anforderungen an die Arbeitnehmer nehmen seit Jahren zu“, erklärt Reefschläger. „Es gibt ja auch Berufsfelder in denen gefordert wird, dass man ständig erreichbar ist. Der Mensch kann nicht abschalten.“ Insgesamt könne man auch von einer Art Entmenschlichung in bestimmten Bereichen sprechen. Immerhin mache die Lockdown frei Zeit Hoffnung. „Das wird bestimmt Wirkung zeigen“, hofft Dr. Rauch. „Man darf allerdings nicht vergessen, dass Depressionen seit Jahren auf dem Vormarsch sind.“

KW07 Psychologe Reefschlaeger
Dr. Gunnar Immo Reefschläger, Psychologe aus Aschaffenburg