"Das Problem wird uns noch Jahrtausende beschäftigen"
BAYER. UNTERMAIN. (mz) Atomkraft – Nein Danke! So heißt es seit diesem Wochenende offiziell auch hierzulande. Nachdem die Laufzeit der letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke vergangenes Jahr nochmals verlängert wurde, ist nun Schluss. Doch der Ausstieg aus der Kernkraft verläuft alles andere als geräuschlos. PrimaSonntag hat mit Experten und Bürgern über die Folgen und Konsequenzen für unsere Region gesprochen.
Es ist ein Abschied mit Verspätung. Eigentlich sollten die letzten drei Atomkraftwerke bereits Ende vergangenen Jahres vom Netz gehen, doch aufgrund der Energiekrise infolge des Ukraine-Krieges wurde die Laufzeit erneut verlängert. Nun – Mitte April 2023 – ist es dann doch soweit. Deutschland verabschiedet sich von der Atomkraft. Doch war der Atomausstieg vor einigen Jahren noch breiter gesellschaftlicher Konsens, ist er heute umstritten wie nie. Viele sorgen sich, dass es, insbesondere in Zeiten der Energiekrise, ohne Atomkraft Probleme mit der Versorgungssicherheit geben könnte. Kritik am Atomausstieg kommt auch von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Aschaffenburg. „In weiten Teilen der Wirtschaft stoßen Ausstiegsdebatten inmitten einer anhaltenden Krisensituation auf Unverständnis, solange ein wettbewerbsfähiges Preisniveau und eine stabile Versorgung nicht zweifelsfrei anderwärtig garantiert werden können“, sagt Andreas Elsner, Bereichsleiter Innovation und Umwelt der IHK Aschaffenburg. „Auch im nächsten Winter wird sich die Frage der Versorgungssicherheit erneut stellen.“
Der Atomausstieg bleibt also ein vieldiskutiertes Thema – auch in der Politik. Gerade zwischen den auf Bundesebene regierenden Parteien FDP und Grüne ist die Kluft besonders groß: Bei den Grünen ist der 15. April – das offizielle Ausstiegsdatum – ein Feiertag. „Der Kampf, der in den 70er Jahren begann, hat sich endlich gelohnt“, freut sich Thomas Mütze von den Aschaffenburger Grünen. Zwar sei der Streckbetrieb der letzten drei deutschen AKWs richtig gewesen, doch nun sei es Zeit, der Atomenergie den Rücken zu kehren. „Nun müssen wir uns noch Jahrtausende mit dem strahlenden Müll herumschlagen. Alles auf Kosten der folgenden Generationen – von wegen billige Energie!“ Strompreiserhöhungen seien laut Mütze nicht zu befürchten. „Der massive Ausbau der erneuerbaren Energien wird schon im nächsten Winter Früchte tragen. Zusätzlich sind die Gasspeicher aktuell gefüllt und werden das auch im nächsten Winter sein.“ Doch wie gut ist unsere Region auf den Ausstieg vorbereitet? „Schon heute erzeugen wir etwa die Hälfte des Stroms in Deutschland erneuerbar – Tendenz steigend. Wir sind also gut vorbereitet.“
Ganz anders sieht das Helmut Kaltenhauser von der FDP. Der haushalts- und finanzpolitische Sprecher der FDP Landtagsfraktion aus Aschaffenburg sieht kurzfristig zwar keine Folgen für die Region, aber: „Mittelfristig wird durch den stark steigenden Anteil an Elektrofahrzeugen die Stromversorgung so nicht funktionieren.“ Seine Warnung: „Zwar gehört die Zukunft den erneuerbaren Energien, aber damit können wir noch nicht unseren Strombedarf ausreichend decken. Es ist zudem ökologisch auch kaum vermittelbar, dass der zusätzliche Strombedarf künftig mit Kohlekraftwerken gedeckt werden soll.“ Eine weitere Laufzeitverlängerung wäre für den Aschaffenburger zwar wünschenswert, er bedauert allerdings die Entscheidungen der Vergangenheit: „Mit der Entscheidung zum Ausstieg vor vielen Jahren, haben sich die technischen Möglichkeiten immer stärker reduziert. Eine Laufzeitverlängerung wäre somit nur bedingt technisch möglich, noch wirtschaftlich sinnvoll.“ Im Ziel der Klimaneutralität 2045 sind sich Wirtschaftsvertreter und Politik einig, der Weg dahin bleibt aber ein Zankapfel. Atomenergie bleibt ein Thema – auch nach dem Atomausstieg.
DAS SAGEN DIE PRIMA-SONNTAG LESER
„Das wird höchste Zeit. Die ganzen Umstände drum herum, wie z.B. Endlagerung, ist unverantwortlich. Alles andere finde ich besser als Atomenergie."
„Es muss dringend weiterlaufen, weil die Grundlastfähigkeit von Solar- und erneuerbarer Energie nicht gegeben ist. Die Abschaltung ist der größte Fehler, den man machen kann.“
„In unserer heutigen Zeit vielleicht ein wenig schnell. Andere Länder nutzen auch noch Atomenergie, wir sollten deshalb nicht zu voreilig sein. Ansonsten sind wir wieder zu abhängig von anderen Ländern.“
„Mir geht das Herz auf, endlich - nach so vielen Jahren des Widerstands. Auch wenn man hört, dass andere Länder aufrüsten - dass das ein klares Minusgeschäft ist, darüber wird weniger gesprochen.“
„Ich finde das etwas früh, gerade in diesen Zeiten. Man hätte es vielleicht eher etappenartig gestalten müssen.“
„Eigentlich ja, doch aktuell sollte man eher zweigleisig fahren. Erneuerbare Energien ausbauen und bis das klappt, noch auf Atomkraft setzen.“
Auch unsere Region war Teil der AKW-Geschichte
Am 31. Oktober 1957 wurde der erste Reaktor in Deutschland in Betrieb genommen – damals in München. Nur wenige Jahre später – im Jahr 1962 – ging auch in unserer Region das erste Kernkraftwerk ans Netz. Offiziell in Kahl, doch das Werk lag nicht auf der entsprechenden Gemarkung. Doch da die Nachbargemeinde Großwelzheim für die US-amerikanischen Arbeiter wesentlich schwieriger auszusprechen war, hieß es offiziell „Versuchsatomkraftwerk Kahl“. Mehr als ein viertel Jahrhundert war das Kraftwerk aktiv und lieferte in dieser Zeit über 2 Milliarden Kilowatt Strom. 1985 wurde der Reaktor planmäßig stillgelegt, doch die Erinnerungen bleiben. So findet sich bis heute im Gemeindewappen von Großwelzheim das Atommodell.