Aufstieg und Fall der Modehochburg Untermain
BAYER. UNTERMAIN (jm). Die Modefabrik Fränk Wolf aus Leidersbach feierte kürzlich ihr 100-jähriges Bestehen. Es ist eines der letzten Überbleibsel aus einer Zeit, als der Untermain noch eine Hochburg für Bekleidung in Deutschland war. PrimaSonntag macht sich mit Experten, Zeitzeugen und noch bestehenden Betrieben auf eine Reise durch die Mode-Historie.
Die Geschichte beginnt bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem jungen Schneidergesellen aus Glattbach. „Johann Desch fertigte während des Deutschen Krieges 1866 Uniformen für das Militär“, erklärt sein Urenkel Heijo Desch. „Bei den Vermessungen fiel ihm auf, dass gewisse Proportionen immer wiederkehren.“ Desch erkannte, dass man den Fertigungsprozess abkürzen konnte, indem man Rümpfe vorfertigt. „Er hat dann nach dem Krieg einen Händler in Darmstadt gefunden, der mit ihm zusammenarbeitete. Das war sofort ein einschlagender Erfolg.“ Desch zog mit einer ersten kleinen Werkstatt in die Aschaffenburger Sandgasse. Dort definierte er die Konfektionsgrößen. „Menschen sind in die Geschäfte gegangen, haben einen Anzug gefunden, der musste dann noch vielleicht minimal abgeändert werden und die Leute hatten einen Tag später ihre Kleidung - eine enorme Zeitersparnis.“ Eine Technik, die auch andere Schneiderein im Umkreis beobachteten: Aschaffenburg wurde zum Zentrum der Bekleidungsindustrie.
Das Geschäft boomt
Bis zum zweiten Weltkrieg reihten sich die Bekleidungsfirmen im Bahnhofsviertel aneinander. „In der Innenstadt wurde wahnsinnig viel durch Bombardierungen zerstört“, berichtet Heijo Desch. Viele Betriebe verlagerten ihre Produktion und Stoffe deswegen in die umliegenden Gemeinden. Dadurch boomte das Geschäft auch im Umkreis. Nach dem Krieg sollte für unsere Region die Hoch-Zeit als Modehochburg beginnen. Die Firma Desch und die anderen Betriebe vergrößerten sich extrem. „Ende der 60er Jahre kam wirklich jeder zehnte in Deutschland verkaufte Anzug aus Aschaffenburg. Die Kunden haben sich um das Zeug gerissen. Man musste eigentlich weniger verkaufen als verteilen.“ Mit dem wachsenden Wohlstand stieg natürlich auch der Bedarf an Kleidung.
„Hunderte Autos
an den Wochenenden“
Der erste Schneider von Desch war der Leidersbacher Johann Wolf. „Er besaß als Erster eine Nähmaschine“, erklärt Elmar Aulbach, Autor des Buches „Leidersbach: Das Schneiderdorf im Spessart“. Daraus entwickelten sich mehrere Generationen von Schneiderlehrlingen und so siedelten sich auch in Leidersbach zahlreiche Kleiderfabriken an. „Wir hatten in den 70ern etwa 3.000 Beschäftigte bei 4.500 Einwohnern. Von diesen Beschäftigten waren rund 80 Prozent in der Kleiderindustrie“, erinnert sich Valentin Zehnter vom Heimat- und Geschichtsverein. „Die Menschen vom ganzen Untermain-Gebiet kamen nach Leidersbach, um bei uns einzukaufen. An den Wochenenden waren hunderte Autos hier.“
Produktion im Ausland
Aber jede Ära muss irgendwann ihr Ende finden: „In den 80ern wurden die Händler stärker als die Produktionen“, erklärt Heijo Desch. „Die Nachfragen haben jetzt den Preis diktiert.“ In der Folge wurde der Hersteller-Preis immer weiter gedrückt. Die Kleiderfabriken sahen sich irgendwann dazu gezwungen im Ausland zu produzieren um Kosten einzusparen. „Das war der Knickpunkt. Der Druck und die Konkurrenz ist immer mehr gewachsen.“, berichtet Desch. „Auf Industrieseite ist wahnsinnig viel kaputt gegangen. Von den zehn bis zwölf großen Firmen sind so gut wie keine mehr übrig geblieben.“ Ähnlich lief es auch in Leidersbach ab. „Viele Fabriken stehen mittlerweile leer oder wurden, wo es möglich ist, zu Wohnraum umgebaut“, so Valentin Zehnter.
Gehalten durch Spezialisierung
Ein Betrieb, der sich gehalten hat, ist das Modehaus Schuck in Leidersbach. „Mein Großvater hat 1949 als Kriegsheimkehrer mit einer kleinen Schneiderei angefangen“, erzählt Christian Schuck. „In den 50er Jahren hat sich der Betrieb immer wieder vergrößert. Mitte der 80er hatten wir hier 50 bis 60 Leute beschäftigt, die genäht haben.“ Im Anschluss spezialisierte sich Schuck auf Produkte für Behörden und konnte somit überleben, während einige Betriebe in Leidersbach zu Grunde gingen. „Wir machen viele Sachen für Vereine, Firmen, Messeinkleidungen oder für Karneval. Da wir das direkt an den Endkunden verkaufen, haben wir natürlich einen anderen Ertrag.“ Bis 2020 wurde hier im Haus noch gefertigt, dann kamen Corona bedingt keine Aufträge mehr. „2022 haben wir dann damit aufgehört hier zu produzieren.“ Das Modehaus Schuck hat immer noch eine Schneiderei und macht Prototypen und Einzelteile, hauptsächlich wird aber in Polen und Slowenien gefertigt. Dass die Mode vom Untermain nach wie vor deutschlandweit hohes Ansehen genießt, beweist auch die Firma KUHN Maßkonfektion, die seit 70 Jahren aus Familienhand in dritter Genration in Schneeberg geführt wird. KUHN produziert nach wie vor in Deutschland und ist einer der größten Anbieter von Maßkonfektionen. Mittlerweile gibt es 16 Filialen bundesweit, eine sogar in Wien. Auch hier sind die Anfänge auf den Pionier Johann Desch und seine Beobachtung zurückzuführen.